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Hirtenbrief zum Beginn der heiligen großen vierzigtägigen österlichen Fastenzeit

+ Bartholomaios

durch Gottes Erbarmen Erzbischof von Konstantinopel, dem Neuen Rom,

und Ökumenischer Patriarch dem ganzen Volk der Kirche

Gnade und Friede von Christus, unserem Erlöser,

von uns aber Fürsprache, Segen und Vergebung



Ehrwürdige Brüder und im Herrn gesegnete Kinder,


dank des Wohlgefallens und der Gnade Gottes, des Spenders aller Güter, treten wir in die heilige Große Fastenzeit, die Rennbahn des Ringens um Enthaltsamkeit, ein. Die Kirche, die nicht nur die Labyrinthe der menschlichen Seele, sondern auch den Faden der Ariadne kennt, der uns wieder aus diesen Labyrinthen herausführt – die Demut, die Umkehr, die Kraft des Gebetes und der ergreifenden heiligen Gottesdienste, das leidenschaftstötende Fasten, die Geduld, die gehorsame Erfüllung der in dieser Zeit geltenden Regel – lädt uns auch in diesem Jahr wieder zu einer gottwohlgefälligen Wanderung ein, deren Maß das Kreuz und deren Horizont die Auferstehung Christi ist.

Die Verehrung des Kreuzes in der Mitte der heiligen Großen Fastenzeit enthüllt die Bedeutung der gesamten Zeit vor dem Osterfest. Das Wort des Herrn erschallt und erschüttert uns: „Wenn einer hinter mir hergehen will, der … nehme sein Kreuz auf, Tag für Tag, und so folge er mir“ (Lk 9,23). Wir werden ermahnt, unser eigenes Kreuz aufzunehmen, so dem Herrn zu folgen, auf Sein lebenspendenes Kreuz zu blicken und zu erkennen, dass der Herr uns rettet, obwohl er unser Kreuz nicht hinwegnimmt. Das Kreuz des Herrn ist „das Gericht über unser Gericht“, das „Gericht über die Welt“ und zugleich die Zusage, dass das Böse in all seinen Formen in der Geschichte nicht das letzte Wort hat. Im Blick auf Christus und unter seinem Schutz – denn er ist der Kampfrichter, der unsere Mühen segnet und stützt – kämpfen wir den guten Kampf, „allseits bedrängt, doch nicht geängstet, weglos, doch nicht ausweglos, gejagt, doch nicht im Stich gelassen, niedergeworfen, und gehen doch nicht zugrunde.“ (2 Kor 4,8-9) Das ist der Kern unserer Erfahrung in dieser Zeit, die uns die Auferstehung im Kreuz erschließt. Wir schreiten zur Auferstehung durch das Kreuz, durch das „Freude in die ganze Welt gekommen ist“.


Vielleicht fragen sich jetzt einige von uns, warum die Kirche, während noch die Pandemie wütet, zu den schon vorhandenen medizinisch bedingten Beschränkungen ihrerseits noch eine „Quarantäne“ verhängt, die vierzigtägige Fastenzeit. In der Tat ist die Große Fastenzeit eine „Quarantäne“, das heißt ein Zeitraum von vierzig Tagen. Gleichwohl hat die Kirche nicht im Sinn, uns durch zusätzliche Vorschriften und Verbote noch mehr einzuschränken. Im Gegenteil, sie lädt uns ein, der wegen der Pandemie verhängten Quarantäne durch die Große Fastenzeit den Sinn einer Befreiung aus der innerweltlichen Gefangenschaft zu verleihen.


Das heutige Evangelium nennt die Bedingungen für diese Befreiung. Die erste Bedingung ist das Fasten. Fasten nicht nur im Sinn der Enthaltung von bestimmten Speisen, sondern auch von allen Gewohnheiten, die uns an die Welt fesseln. Diese Enthaltung ist kein Ausdruck von Weltverachtung, sondern die notwendige Voraussetzung der Wiederherstellung unserer Beziehung zu ihr und der Erfahrung der einzigartigen Freude, sie als Raum des Zeugnisses für Christus wiederzuentdecken. Darum haben die Wahrnehmung und die Erfahrung des Lebens der Gläubigen selbst in der Rennbahn des Fastens einen österlichen Charakter, einen Geschmack von Auferstehung. Die Stimmung der heiligen Vierzig Tage ist nicht bedrückend, sondern eine Atmosphäre der Freude. Diese „große Freude“ hat der Engel in der Stunde der Geburt des Erlösers „allem Volk“ verkündet (Lk 2,10). Sie ist die unentwendbare und „erfüllte Freude“ (1 Joh 1,4) des Lebens in Christus. Christus ist in unserem Leben stets gegenwärtig. Er ist uns näher als wir uns selbst, alle Tage, „bis zur Vollendung der Welt“ (Mt 28,20). Das Leben der Kirche ist ein unzerstörbares Zeugnis von der kommenden Gnade, von der Hoffnung auf das Reich Gottes, von der Fülle des offenbarten Mysteriums des göttlichen Heilshandelns.


Der Glaube ist die Antwort auf das menschenliebenden Herabsteigen Gottes zu uns, er ist das unsere gesamte Existenz umfassende „Ja“ zu dem, der „die Himmel geneigt hat und herabgestiegen ist“, um das Menschengeschlecht „aus der Knechtschaft des Widersachers“ zu befreien und uns den Weg der Vergöttlichung aus Gnade zu eröffnen. Aus der Gnadengabe entspringen und nähren sich der Opfermut in der Liebe zum Nächsten und die „Sorge“ für die ganze Schöpfung. Wenn diese Bruderliebe und der gottgeziemende Dienst an der Schöpfung wegfallen, wird der Mitmensch zur „meiner Hölle“ und fällt die Schöpfung jenen irrationalen Kräften zum Opfer, die sie zu einem Gegenstand der Ausbeutung und zu einer menschenfeindlichen Umgebung machen.

Die zweite Voraussetzung für unsere Befreiung, die uns die Große Fastenzeit verspricht, ist das Vergeben. Die „geschlossene Spiritualität“, die aus der Negation und der Ablehnung des „Anderen“ und der Welt lebt, bedeutet das Vergessen des Erbarmens und des unsagbaren Heilshandelns Gottes und verwirft die Weisung des Herrn, „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ (Mt 5,13-14) zu sein, und verfälscht das christliche Ethos. Sie tötet die Liebe, die Vergebung und die Annahme dessen, der anders ist als ich. Diese unfruchtbare und oberflächliche Lebenseinstellung verwerfen ausdrücklich jene Gleichnisse des Evangeliums, die wir an den drei ersten Sonntagen des Triodions gehört haben.

Es ist bekannt, dass solche Extreme besonders in jenen Zeiten auftreten, wenn die Kirche ihre Gläubigen zur geistlichen Ertüchtigung und Wachsamkeit ermahnt. Doch das wahre geistliche Leben ist ein Weg innerer Wiedergeburt, ein Aus-uns-Herausgehen, eine liebevolle Hinwendung zum Nächsten. Nicht Reinheitswahn und Exklusion, sondern Vergebung und Unterscheidung, Lobpreis und Dank – gemäß der aus der Erfahrung geschöpften Weisheit der asketischen Überlieferung: „Nicht die Speise ist schlecht, sondern die Gefräßigkeit …, auch nicht das Sprechen, sondern die Geschwätzigkeit …, auch nicht die Welt ist schlecht, sondern die Leidenschaften“.



In diesem Sinn vereinigen wir unsere Gebete mit den eurigen, Geliebte, und erbitten die endgültige Überwindung der todbringenden Pandemie und die schnelle Behebung ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen. Wir ersuchen euch auch um das Gebet für die Wiedereröffnung der Theologischen Hochschule von Chalki, die seit 50 Jahren durch behördliche Anordnung zu Unrecht verstummt ist. Und wir heißen in der Kirche die heilige Große Fastenzeit willkommen, indem wir gemeinsam singen „Mit uns ist Gott“. Ihm sei die Ehre und die Macht in alle Ewigkeit. Amen!


Heilige Große Fastenzeit 2021

+ Patriarch Bartholomaios von Konstantinopel

Euer aller inständiger Fürbitter bei Gott

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